Kunst als Impulsgeber

Mona Jas war eine der drei Keynotspeaker*innen am Freitag, den 23.09.16 im Rahmen der Veranstaltung we.confer.

Mona Jas, Künstlerin, Honorarprofessorin für Theorie und Geschichte an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin und Initiatorin eines Kulturprojekts für und mit geflüchteten Menschen. Foto: Walter Wetzler
Mona Jas, Künstlerin, Honorarprofessorin für Theorie und Geschichte an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin und Initiatorin eines Kulturprojekts für und mit geflüchteten Menschen.
Foto: Walter Wetzler
  1. Wie wollen wir in Europa zusammen leben (= gerecht und solidarisch)?
  2. Wie erreichen wir Gerechtigkeit und Solidarität in unserer Gesellschaft?
  3. Was brauchen Menschen, um gemeinsam eine offene und solidarische Gesellschaft zu schaffen
    (= Freiheit von Vorurteilen und Ängsten)?
  4. Wie gehen wir mit Vorurteilen und Ängsten um?
  5. Welche Rolle spielt Kunst, Kultur und kulturelle Bildung im Hinblick auf die Hauptthemen „offene Gesellschaft und zukünftiges Zusammenleben“?
  6. Welche Chancen bieten Kunst, Kultur und kulturelle Bildung im Hinblick auf die Hauptthemen „offene Gesellschaft und zukünftiges Zusammenleben“ ?

Aus der Perspektive einer Kunst- und Kulturschaffenden und einer Lehrenden an einer Kunsthochschule möchte ich auf die oben stehenden Fragen Bezug nehmen, in dem ich etwas zu meiner Herangehensweise und meinen Erfahrungen sage.

 

In meiner künstlerischen Praxis mit Gruppen geht es mir darum Formate zu schaffen, die

  • individuell verbinden und gegenseitiges Vertrauen ermöglichen
  • individuell Potenziale fördern
  • neue Wahrnehmungen öffnen
  • neue Perspektiven ermöglichen
  • Grenzen überschreiten
  • experimentelle und innovative Methoden transportieren
  • neue Erkenntnisse generieren
  • Potenziale und Ressourcen sichtbar machen
  • gemeinsame künstlerische Prozesse ermöglichen und fördern
  • akute/relevante Themenfelder bearbeiten
  • strukturell Potenziale öffnen: z.B. Netzwerke schaffen

(Für jeden Punkt kann ich eine konkrete Situation benennen, in der dies gelungen ist.)

Mona Jas beim youngcaritas barcamp zum Thema "Offene Gesellschaft" Foto: Walter Wetzler
Mona Jas beim youngcaritas barcamp zum Thema „Offene Gesellschaft“
Foto: Walter Wetzler

Gemeinsame künstlerische Prozesse beginnen, wenn wir …

  • Kunst/Gestaltung als nicht rationale Kommunikations- und Ausdrucksmittel verstehen.
  • Kunstwerke/Designobjekte/Filme/Literatur/Spiele … als Ausgangspunkt für etwas Neues in einen Dialog bringen.
  • Die von Künstler*in, Kurator*in oder Kunstmarkt implizierten gesellschaftlichen Werte expandieren, hinterfragen, umkehren (détournement).
  • Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Arealen führen.
  • Kunst, bzw. künstlerisch/gestalterische Prozesse als Impulsgeber setzen.

 

Die Grundlage der gemeinsamen Arbeit sind folgende zehn Ansätze

  1. Verstehen durch eigenes Erleben: ausgehend von eigenen Biografien, Erfahrungen , Lebenswelten und Interessen der Teilnehmenden; ohne keine Hierarchisierung von Erfahrungen (i.S. von: Erfahrung der sogenannten Hochkultur sei besser …)
  2. Kulturelle Mythen hinterfragen: Formen des Umgangs mit Kunst, Gestaltung, Film, Architektur, Spielen und Kultur im weiten Sinne sind vielfältig, jede Sichtweise ist legitim, die Paläste der Gegenwart gehören allen.
  3. Individuelle Aneignung von Kunst/Gestaltung: durch Übersetzung in eine eigene Sprache, gleich einem Schneeball, der durch den Schnee gerollt wird, legen sich verschiedene Deutungsschichten übereinander.
  4. Reflexion, Selbstreflexion, Reflexion der Selbstreflexion: z.B. mit Film-, und Fotodokumentationen, Feed-Backs, begleitenden Evaluationen, Interviews
  5. Perspektivenwechsel und Empathie
  6. Der Lauf der Dinge: In jeder Situation können sich Abläufe ändern, Unvorhergesehenes kann sich z.B. zum Inhalt der anschließenden Projektphasen entwickeln.
  7. Ambiguitätstoleranz: das Aushalten von Widersprüchlichkeiten, welche durch Unterschiede und mehrdeutige Informationen auftreten können sowie das Aushalten von gegensätzlichen Erwartungshaltungen.
  8. Begriff von Identitäten als beweglich: Identitäten sind stets wandelbar, daher nicht wesenhaft und nicht feststehend.
  9. Verständnis der Zusammenarbeit als „Zone des Lachens“, die eine Kontaktzone (siehe auch „contact zone“, James Clifford[1]) herstellt. Das Lachen als Hinweis des Aufdeckens eines besonderen Aspektes der Welt insgesamt (Michail Bachtin über Gogol[2]) und als Vereinigung von Widersprüchlichem und Unvereinbaren, gegen offizielle Normen.
  10. Das Verständnis von Sprache und Kultur als Medium, welches während des Vorgangs der Kommunikation (Sprache, Geste, Mimik, Haltung, Skizzierung mit Zeichnung, „Vormachen“ – „Nachmachen“, Performance) gemeinsam definiert und „ausgehandelt“ wird. Das, was wir meinen und verstehen, wird in jeder Konstellation neu entwickelt.[3]

Der nun folgende Teil schildert Erfahrungen und Beobachtungen, die in der Zusammenarbeit mit Akteur*innen der Berlin Mondiale[4] gemacht wurden. Berlin Mondiale ist ein Projekt des Rates für die Künste Berlin mit beratender Unterstützung des Flüchtlingsrats Berlin e.V.  in Trägerschaft des Kulturnetzwerk Neukölln e.V. Berlin Mondiale initiiert und begleitet Partnerschaften zwischen Kultureinrichtungen und Unterkünften in Berlin. Sie umfasst im aktuellen zweiten Projektjahr 13 Kultureinrichtungen, eine Universität und 13 Unterkünfte, die in Tandempartnerschaften zusammenarbeiten. Die Einrichtungen sind über acht Berliner Bezirke und 14 Stadtteile verteilt. Unter den Kultureinrichtungen sind große, staatlich subventionierte Institutionen genauso vertreten wie Produktionsstätten der freien Szene unterschiedlicher Größe. Das Projekt kann als ein Beispiel für viele aktuelle bundesweite Projekte und Initiativen stehen und eignet sich daher gut, um hier die Fehler, Krisen, Konflikte aber auch die Potenziale genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Teilnehmenden an den künstlerischen Projekten sind in unserem Projekt Familien: Kinder, Jugendliche, Eltern, Großeltern.

 

Keynote von Mona Jas. Foto: Walter Wetzler
Keynote von Mona Jas. Foto: Walter Wetzler

 

Gemeinsam wie soll das gehen?

Es sind die künstlerischen Prozesse, die seit 2013 gemeinsam mit Bewohner*innen der Notunterkunft in Alt-Moabit, Studierenden der Kunsthochschule Weißensee, Kunst- und Kulturschaffenden und den Kunst-Werken Berlin (einer internationalen Kulturinstitution, die Kunstpositionen der Gegenwart produziert und präsentiert) Verbindungen schaffen und Netzwerke entstehen lassen.

Was genau ist darunter zu verstehen? Beispiel 1: Mit der Frage, welche Verbindung NeuBerliner*innen zwischen den unterschiedlichen Orten der Notunterkunft in Moabit und dem Ausstellungsort in Mitte herstellen und wie ein Kontakt aussehen könnte, machen sich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus Alt-Moabit und externe Künstler*innen sowie Studierende gemeinsam auf den Weg. Erkundet wird die Verbindung von der Unterkunft über das Brandenburger Tor bis zu den Kunstwerken und die dort laufenden Ausstellungen. (Beschreibung der Workshops) .[5]

Blicke, Wahrnehmungen und Eindrücke werden in künstlerischen Prozessen gesammelt, geordnet, um- und neugestaltet. Verschiedene Fundstücke des Weges und aus den Ausstellungsbesuchen lassen eine Materialsammlung entstehen, die jede der Teilnehmer*innen in einem eigenen Album verarbeitet. Erlebnisse, Bilder, Eindrücke, Empfindungen und Sinneswahrnehmungen werden transformiert, gespeichert und eigene Sammlungsprinzipien entwickelt.

Das Album wird zum Archiv der Spuren von Handlungen, Ereignissen und Begegnungen. Es steht für ein emigrierendes Gedächtnis und ist gleichzeitig ein portables Museum. Alle Mitmachenden der Workshops erhalten die Möglichkeit, ihre Gegenwart in Berlin gemeinsam neu zu erfinden und sich im Hier und Jetzt zu positionieren. Parallel zu den Workshops entstehen Möglichkeiten für Dialoge zwischen den Mitarbeiter*innen und Besucher*innen der beiden Kooperationsorte. Ein gemeinsames Gruppenalbum entsteht als Ergebnis der Workshops (hier werden Exemplare zur Ansicht herumgegeben).

Mona Jas beim youngcaritas barcamp zum Thema "Offene Gesellschaft" Foto: Walter Wetzler
Mona Jas bei we.confer
Foto: Walter Wetzler

Im Rahmen des Abschlusses unseres ersten gemeinsamen Projektes BLICKE / GLANCES in der ASB Notunterkunft im Juni 2015 wurden Ideen für das die weitere Zusammenarbeit mit allen Beteiligten besprochen. Die Frage, ob jemand eine Stimme habe oder auch, was eine Stimme bedeute, wurde mit der Suche nach einem geeigneten Gesangsstück und dem sich anschließenden Singen desselben beantwortet. Alle Anwesenden nahmen diesen Faden auf und versuchten entweder selbst zu singen oder die anderen dazu zu bewegen. Es entstand eine Art Spiel, das die Kinder aufgriffen, in dem sie mit einem Audio-Aufnahmegerät alles aufzeichneten. Für die Beteiligten bedeutete es eine große Herausforderung, aus dem Stegreif und ohne Instrumentalbegleitung vor den anderen zu singen. Es entstanden sehr fragile Momente unterbrochen von den fordernden Stimmen der Kinder, die nun im ganzen Haus herumliefen und „Sing etwas! Komm, sing etwas!“ skandierten. Es fanden sich einige, die sich darauf einließen. Schlagartig verstummte dann das Haus. Alle hörten zu, jedes Räuspern, Zögern, Innehalten der Sänger*in war vernehmbar. Wenn dann endlich die Stimme voll erklang, lag für Minuten eine Verzauberung im Raum, beendet durch das unweigerliche Ende des Stückes. Solche Situationen lassen sich nicht geplant und methodisch strukturiert wiederholen. Sie tragen sich – wie nebenbei – im Rahmen eines vertrauensvollen und vielstimmigen Dialoges zu.

Wir setzen diese Prozesse dann unter dem Titel “Stimmen / Voices” fort. Ab Oktober 2015 fanden dazu thematisch Workshops statt. Von April bis Juli 2016 stand im Gemeinschaftsraum der Unterkunft eine Sprechkabine, in der die Bewohner*innen Sounds, Gesang und Sprache aufnehmen und online veröffentlichen konnten.[6]

An dieser Stelle folgen nun einige Beobachtungen aus der Praxis. Die erste Beobachtung wurde von Matthew Sims verfasst. Er hat zu dieser Zeit als „Aufsicht“ in den Ausstellungen gearbeitet und unsere Arbeit sehr unterstützt. Sims kommt aus Los Angeles und arbeitete zum Zeitpunkt des Projektes an seinem PhD in London. Er war sehr zugewandt und so sprach ich mit ihm regelmäßig über die Erfahrungen, die wir in den Ausstellungsräumen mit den Kindern machten. Für uns war es insbesondere wichtig, Veränderungen in der Institution selbst zu beobachten und zu ermöglichen. Die zweite Beobachtung stammt von mir. Sie bezieht sich auf einen Workshop, den ich mit dem Autoren und Kulturagenten Thanassis Kalaitzis gemeinsam durchgeführt hatte. Die dritte und vierte Beobachtung sind von Thanassis Kalaitzis und beschreiben seine Wahrnehmungen in Workshops in den Räumen der ASB Notunterkunft und in den KW.

 

Beobachtung 1 von Matthew Sims[7]

It’s often taken for granted particularly when viewing an art piece or a representation of some sort that its’ being a representation makes it something that can be understood correctly or incorrectly; where there is representation, there is room for interpretational mistake and therefrom comes the need for direction on how and what to see. On this particular day, the atmosphere at KW was transformed within seconds from a kind of stillness that normally accompanies the first floor to a frenzy of curiosity, playfulness and imagination. With these children’s presence, the instillation came to life in a way that transcended representation. A movie set became a house. It was as if for 15 minutes, as their voices carried throughout the room and their eyes and fingers brushed against every glass and wooden surface, the need for correct interpretation there was abandoned for experience. After they left, the room became still again. The instillation returned to being a representation again, however, the experience somehow left me content yet somewhat unsettled. I couldn’t help but wonder just what they had seen in their brief time at KW – in their brief time in Berlin – in their brief time – and more so what they would see tomorrow. Anyway, I looked forward to seeing them again soon.

Beobachtung 2[8]

Gemeinsam mit acht Kindern machen sich zwei Künstler*innen von Moabit auf den Weg in die Gruppenausstellung WELCOME TO THE JUNGLE der KW. In der U-Bahn reagieren die anderen Passagiere offen und hilfsbereit auf die Gruppe. Auf dem letzten Stück vom Nordbahnhof in die Auguststraße, welches zu Fuß zurückgelegt wird, ändert sich dies. Die „anderen“ Passant*innen – aus Berlin Mitte – unterscheiden sich von der Gruppe: andere Kleidung, andere Bewegungsweisen, andere Mimik, andere Sprache. Es sind kleine Unterschiede. Auf der Oberfläche lassen sich die Teilnehmer*innen der Gruppe dadurch nicht am gemeinsamen Blumen pflücken, Rennen und Singen stören: „Habibi, I love you, Habibi I want you“, „Fuchs du hast die Gans gestohlen ..“.

Die Jüngste der Gruppe entdeckt einen gelben Luftballon in einem Kinderwagen vor einer Kita. Sie will ihn mitnehmen. Eine Frau mit ihrem Kind sieht dies und unterweist das Kind streng mit den Worten, dies ginge gar nicht, wo kämen „wir“ denn da hin. Das Kind aus der Gruppe reicht ihr den Luftballon stumm mit einem Lächeln entgegen. Die Frau nimmt ihn nicht an, sondern deutet nur auf den Kinderwagen. Dorthin legt das Kind den Ballon zurück. Es geht weiter. Die meisten aus der Gruppe erkennen die Tucholskystraße von ihren vorangegangenen Ausflügen und rennen das letzte Stück in den Hof der KW zum Workshopraum. Sie erhalten den Schlüssel und schließen die drei Türen zum Raum auf. Nun gibt es Getränke und ein paar Kleinigkeiten zum Essen. Vollgepackt mit Mal- und Schreibsachen geht es anschließend in die Ausstellung. Der Eingang befindet sich diesmal jedoch im Keller. Überrascht von der Installation MALIBU MOONRISE der österreichischen Künstlerin Marianne Vlaschits betreten die Kinder den Kellerraum mit seiner Badewanne und den auf Pappe aufgemalten Männern. Sie studieren alles sehr gründlich und wollen die Duschseifenpackungen, Plastikgewehre, Plastikbananen und Plastikpalmen berühren. Ein paar Stufen führen hinauf in die BASIS, den Hauptraum der Ausstellung mit seinen zahlreichen Filmprojektionen. Die Arbeit SOUNDFOUNTAIN von Klaus Weber, ein großer Springbrunnen, der Sand statt Wasser versprüht, bildet die größte Attraktion für die Gruppe. Die älteren Jungen wenden sich den einzelnen Filmen zu, setzen Kopfhörer auf und betrachten Arbeiten wie BLIGHT von John Smith und NIGHT SOIL/FAKE PARADISE von Melanie Bonajo. Ein Kind legt sich bäuchlings in die Mitte des Raumes zwischen zwei große Projektionsflächen und malt. Einige wollen länger in der Ausstellung bleiben, andere rennen in den Hof und spielen. Dort fällt ihnen ein, dass sie noch gar keine runden KW Buttonkleber haben, diese farbigen Sticks dienen als Eintrittskarte. Sie gehen zum Tresen und bitten den Guard darum. Dieser nimmt sich die Zeit sie zu fragen, welche Farbe sie wollen. Dazu zieht er sechs Kartons mit den verschiedenen Farben unter dem Tresen hervor und zeigt sie den Kindern. Diese können sich nun in Ruhe für ihre Farbe entscheiden. Zufrieden verlassen sie den Ausstellungsraum. Zum Abschluss sitzt die Gruppe gemeinsam am Tisch im Workshopraum, schreibt und malt. Als dann die Sozialarbeiterin kommt, um die Kinder abzuholen, räumen alle gemeinsam auf. Der Raum sieht danach beinahe unbenutzt aus. Der Künstler drapiert die rosafarbenen Blüten auf dem Tisch.

 

Beobachtung 3 von Thanassis Kalaitzis

Wir sind für unseren heutigen Workshop mit den Kindern im Aufenthaltsraum der Notaufnahme verabredet. Dieser Aufenthaltsraum ist eine Transitzone. Hier gehen alle durch – manche sitzen unter den großen Fenstern in der einzigen Sofa-Sitzecke, andere bleiben kurz vor dem Fernseher stehen, andere klären mit der Anmeldung Einzelprobleme, etwas wird geliefert, jemand ruft an, es ist eine Kette von Grüßen und Handeschütteln.

Die jungen Bewohner*innen, mit denen wir arbeiten sind heute zwischen 8 und 12 Jahren und sie produzieren hier im Raum jede Menge mehr Bewegung als sonst. Der Herbst hat die Kinder aus dem Hof verscheucht. Sie brauchen Spielraum. Die Künstlerin hat ihre IT-Maschinerie aufgebaut, um den Teilnehmer*innen des vorigen Workshops zu helfen, Kontakt zur ihrer Arbeit in der Ausstellung aufzunehmen. Sie zeigt eine der Filmarbeiten, die in der Ausstellung projiziert wurden und die Fotos, die von den Kindern in der Ausstellung und dem Arbeitsraum gemacht wurden. Hier wird es plötzlich ruhiger, jede*r wartet, sichtbar zu werden, gezeigt zu werden, jemand zu sein, da zu sein. An dieses Phänomen soll der heutige Workshop anschließen. „Hallo. Ich bin’s“. Denk an mich“. Idee ist es, mit den Kindern blanke Postkarten zu beschriften und sie im Idealfall sogar zu versenden. An Freunde, an die eigenen Eltern, an die KW, an die Welt, vielleicht sogar an sich selbst. Schnell stellt sich heraus, dass die Postkarten eher ein Format sind, bemalt als beschrieben zu werden. Der Sturm auf die Malutensilien beginnt – ein Wettbewerb entsteht, wer die meisten Stifte hat, wer die meisten Karten bemalt, wer Meister des Meisten ist.

Die Kinder beginnen mit den Fotos der Projektion zu interagieren. Sie halten die Postkarten in die Projektion, wodurch jede Karte ein eigenes Motiv erhält. Nur wenige wagen sich, das selbstgewählte Motiv mit Stiften auf die Postkarte zu übertragen und in der Projektion zu malen. Sie werden ermutigt und unterstützt mit einzelnen, hoffentlich helfenden Strichen und verbalen Ermutigungen. Dafür wagen andere die Karten mit eigenen Motiven zu vereinnahmen. Nur drei von den vielleicht zwanzig Kindern, die mehr und weniger intensiv mitmachen am heutigen Workshop, schreiben selbstverständlich eine Nachricht auf die Postkarte, nachdem sie sich um eine Motivgestaltung auf der blanken Seite bemüht hatten. An diesem Punkt sind die Kinder, die in der Notunterkunft untergebracht sind, ihren Altersgenoss*innen in Einfamilienhäusern, WGs, Einzelelternhaushalten oder statistischen Durchschnittsfamilien ganz ähnlich: Was ich gestalte ist meins! Was ich (be)schreibe ist meins!

Mein Wunsch über die Versendung der Karten und ihre Inhalte zu sprechen wird ausgeschlagen, die beschriebenen Postkarten sind appropriiert. Das geschriebene Wort ist privat. Die Karte als Form des Dialoges ist privat – sei es ein Dialog mit einer anderen Person oder mit sich selbst. Der Transit des Aufenthaltsraumes tut sein übriges. Die Kinder steigen in die Workshoparbeit ein und wieder aus, entsprechend der Aufmerksamkeitsangebote im Raum: Ein Geschwister läuft herum, ein anderes Kind ist schon fertig mit seiner Karte, die Schere ist gerade nicht frei, ein Elternteil schaut vorbei, das Telefon der Anmeldung klingelt, ein Trickfilm beginnt im Fernseher.

So schließt dieser Workshop mit einer Erkenntnis: Dialog ist fragil und transitorisch und benötigt einen stabilen und geschützten Raum, der dem Transit im Leben der Kinder entgegenwirken kann. Die Aufgabe der folgenden Workshops wird es also sein, die Kinder zunehmend damit vertraut zu machen, dass sie mit ihrem Wort nicht nur privat sein dürfen sondern auch öffentlich wirken können und dass ihre Geschichte einen Wirkungsradius haben kann, wenn sie sich dafür entscheiden.

 

Beobachtung 4 von Thanassis Kalaitzis

Spiegelbilder Reflektieren

In der Kunstgeschichte gab es eine Zeit, in der Kunst als Abbild der Realität wahrgenommen, geschätzt und geliebt, aber ebenso auch verachtet wurde. In der noch verhältnismäßig kurzen Geschichte des narrativ-romanhaften Erzählens (des Romans) gab es ebenso Zeiten, in denen das Erzählen, insbesondere das Erfinden von Geschichten, nicht sehr gut angesehen war. Mein Ziel war es, in den beiden Workshoptagen mit den Kindern ins Gespräch zu kommen, was sie sich wünschen, wie sie sich ihr Leben in Berlin vorstellen, wo sie sich hinträumen und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Methode der Wahl war an diesen beiden Tagen die Wunschkiste, ein Modellbaukasten / Bausatz für Wünsche und Stichworte, die mir helfen sollten, Geschichten zu erzählen. Die andere Methode ist und bleibt die Postkarte, die immer noch auf den Tischen liegt und einladen soll, Lebenszeichen zu verschicken und Kontakte in die Welt von heute und morgen zu knüpfen. Die Kinder sind an jedem Tag in der Ausstellung der KW (sie bestehen darauf!) und dieser Ort ist inzwischen eine Kombination aus Spielplatz und Herausforderung für sie geworden. Ihnen steht es hier frei, sich zu bewegen und sie machen das in einer Weise, wie das nur zehn- bis zwölfjährige Menschen können: mit viel Tempo, Freude und Lachen. Besonders dann, wenn ich ihnen folge und sie in ein Fangen-und-Jagen-Spiel verfallen. Die Werke, über/unter/neben/bei denen sie spielen, scheinen ebenso real/irreal wie eine U-Bahn-Werbung, an der sie verweilen und begehren.

Ich beobachte sie aber auch bei der teils intensiven Rezeption der Werke und bei der Interaktion/Aneignung mit den präsenten Werken und Besucher*innen. Es ist eine sehr langsame Annäherung, die von Workshop zu Workshop neue Strategien hervorbringt und damit neue Ergebnisse. So versuchen die Kinder – wie bei der Arbeit mit Photos – mit ihren Papieren in die Videoprojektionen zu gehen und diese auf ihre Papiere zu übertragen. Weil sie es jetzt aber mit bewegten Bildern zu tun haben, gehen sie mit der Projektion mit und werden während des (Ab)Malens der Videobilder Teil der Projektion und sie sind in der Ausstellung damit die Einzigen, die ein Abbild der Abbilder produzieren und mitnehmen. (…)

Die oben beschriebenen Erfahrungen in der künstlerischen Arbeit mit NeuBerliner*innen veranschaulichen, an welchen Stellen Umdenken erforderlich ist, Strukturen verändert werden müssen und vor allem Kommunikation geschaffen und verändert werden muss.

Abschließend – was empörend falsch läuft:

Die eingangs zusammengestellte Liste der Formate, die ich in meiner Arbeit mit Gruppen durch künstlerische Prozesse auf den Weg bringen möchte, wird unter die Lupe genommen.

 

Was und wer verhindert es Formate zu schaffen, die

  • individuell verbinden und gegenseitiges Vertrauen ermöglichen

Verhinderung durch mangelhafte Kommunikation (z.B. Informationsdistribution der Künstler*innen und der Einrichtung, unreflektierte Haltungen aller Beteiligten in Bezug auf ihre Positionen, ihre Geschichte, ihre Vorurteile), Verhinderung durch mangelnde Aufklärung und Bildung der Etablierten  (Etablierte wollen ihre Alltagsroutinen nicht verlassen, sich daher erst einmal nur ungern auf andere einlassen und nicht in ihren gewohnten Abläufen gestört werden. Dies verhindert leider oft einen freundschaftlichen Austausch und Umgang miteinander. Auch bestehen viele Vorurteile, die durch mangelnde Bildung verursacht wurden. So wird sehr oft immer wieder die Angst vor „ansteckenden Krankheiten“ geäußert oder auch die Angst vor „sexuellen Übergriffen“. Dies sind beinahe klassische Stereotypen, die seit Urzeiten diffuse Ängste einer Mehrheit gegenüber einer Minderheit „sachlich“ begründen sollen.

  • individuell Potenziale fördern

Verhinderung durch ungenügende Kooperation und Absprachen von Institutionen, mangelnde Räumlichkeiten, mangelndes Verständnis der Beteiligten für Potenziale der Teilnehmenden, fehlende Vernetzung von Einrichtungen, Kulturinstitutionen und Schulen.

  • neue Wahrnehmungen öffnen

Verhinderung durch mangelnde Zeit, Erweckung falscher Erwartungen durch Kommunikation (s.o.)

  • neue Perspektiven ermöglichen

Verhinderung durch demonstrierte abwertende Haltung, „Schubladen-Denken“ (dies kann auf alle Akteure, die ein öffentliches Leben bewusst/unbewusst mitgestalten, zutreffen) und die politischen Verhältnisse (fehlendes Bleiberecht)

  • Grenzen überschreiten

mangelnde Ressourcen (z.B. Geld für Schiffsfahrten); mangelnde Kooperationswilligkeit weiterer Partner*innen wie Transportunternehmer*innen; rechtliche Situation

  • experimentelle und innovative Methoden transportieren

mangelndes Vertrauen der Teilnehmenden, bedingt durch schlechte Erfahrungen; mangelnde Unterstützung durch Institutionen und ihren Akteuren, bedingt durch Bequemlichkeit, Desinteresse und fehlender Überzeugung in Bezug auf die Wichtigkeit; mangelndes Verständnis der Einrichtungen für künstlerische Qualität

  • neue Erkenntnisse generieren

mangelndes Verständnis für das Erfordernis intensiver und individueller Ansprache/Dialog (aller beteiligten Berufsgruppen), mangelnde Reflexion der eigenen Position (wer bin ich und was mache ich im privaten Umfeld eine*r Neuberliner*in?)

  • Potenziale und Ressourcen sichtbar machen

problematische Öffentlichkeitsarbeit: oft erfolgt eine Form der Viktimisierung der Teilnehmenden.

Formen der  Viktimisierung und die damit einhergehende paternalistische Haltung fließen in der Regel beiläufig und manchmal auch unbewusst in die Beschreibung, Berichterstattungen und Dokumentationen über Aktivitäten von und mit Neuberliner*innen ein. Dadurch lassen sich Formen der Viktimisierung gegenüber denjenigen, die diese artikulieren,  nur schwer „dingfest“ machen. Ein guter Test ist folgender: Gib den betreffenden Artikel oder Beitrag der Person in die Hand, über die berichtet wird. An der Reaktion wirst du sehen, ob die Repräsentation dieser Person in der Öffentlichkeit angemessen ist. Beispiel: Ein Mädchen liest völlig verstört einen Satz vor, der über sie und ihre Familie in einer neutralen Tageszeitung zu finden ist: „Sie sind gar nicht so gefährlich …“, was damit gemeint sei, wollte die aufgeweckte Elfjährige wissen. Dies wollte ihr dann leider keiner der Verantwortlichen erklären.

  • gemeinsame künstlerische Prozesse ermöglichen und fördern

ungenügendes Rollenverständnis beteiligter Akteure („Helfersyndrom“); ungenügendes Verständnis für ästhetische Umgebung (Einrichtung der Unterkünfte); ungenügendes Verständnis für künstlerische Methoden, Formate und Materialien; eigenes Auftreten (Raum geben …)

  • akute/relevante Themenfelder bearbeiten

mangelnde Bereitschaft der Systeme zur Öffnung und zum Experiment

  • strukturell Potenziale öffnen: z.B. Netzwerke schaffen

ungenügendes Bewusstsein für Nachhaltigkeit und Kontinuität

(Für jeden Punkt kann ich eine konkrete Situation benennen, in der dies nicht gelungen ist.)

Fatuma Musa und Mona Jas beim youngcaritas barcamp zum Thema "Offene Gesellschaft" Foto: Walter Wetzler
Die Keynotespeakerinnen Fatuma Musa und Mona Jas beim youngcaritas barcamp we.confer
Foto: Walter Wetzler

 

Literaturtipp

Elias, Norbert/Scotsen, John L.: Etablierte und Außenseiter (The Established and the Outsiders. A Sociological Enquiry), Suhrkamp Taschenbuch Verlag: 1993 (1. Aufl.).

[1] Clifford, James: „Museums as Contact Zones“, in: Routes, Harvard College, Cambridge, Mass. 1997, S. 188 ff.

[2] Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes, Hg. Rainer Grübel, Frankfurt/M. 1979, S. 338ff.

[3] ebenda: S. 173ff.

[4] http://berlin-mondiale.de/7-kooperationen-2/projekt-3/

[5] Beschreibung der Workshops unter: http://berlin-mondiale.de/7-kooperationen-2/projekt-3/archiv/

[6] http://berlin-mondiale.de/7-kooperationen-2/projekt-3/die-sprechkabine/

[7] Sims, Matthew in: Blicke / Glances. Gruppenalbum Projektdokumentation

[8] http://berlin-mondiale.de/7-kooperationen-2/projekt-3/workshop-1-2/

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