„Willst du, oder musst du Autofahren?“
Sei mal ehrlich: Hast du dir als Autofahrer:in schonmal Gedanken gemacht, was das Autofahren für dich bedeutet? Jederzeit uneingeschränkt überall hinfahren zu können – sei es zur Arbeit, schnell in den Supermarkt, ins Kino oder auf ein Stück Kuchen zur Oma – und durch das Autoblech einer größeren Sicherheit ausgesetzt zu sein als andere Verkehrsteilnehmer:innen?
Ich muss ehrlich sagen, dass ich mir als regelmäßige Autofahrerin darüber bisher nicht wirklich den Kopf zerbrochen habe. Katja Diehl öffnet in ihrem Buch Autokorrektur diese autozentrische Perspektive und argumentiert beispielsweise, dass nicht-motorisierte Verkehrsteilnehmer:innen durch schlecht ausgebaute Fuß- und Radwege an den Rand gedrängt und einem erhöhten Sicherheitsrisiko ausgesetzt seien.
Das Auto bestimmt unser Verkehrssystem – doch ist vielen Autofahrer:innen oftmals überhaupt nicht bewusst, welche Privilegien und auch Abhängigkeiten der Besitz und das Fahren eines Autos mit sich bringt. Mit Katja Diehls Buch Autokorrektur erschien beim S. Fischer Verlag dieses Jahr ein autokritisches Plädoyer, das unser Mobilitätssystem hinterfragt. Überzeugend sachlich argumentiert, widmet sich Diehl unserer autozentrierten Gesellschaft. Die Autorin erörtert, wie sich die heutige Mobilitätslage entwickelte, diskutiert den Status des Autos in unserer gegenwärtigen Gesellschaft und betrachtet die räumliche Situation auf unseren Straßen. Dabei immer im Zentrum mitgedacht sind weniger technische Aspekte, sondern vielmehr der Mensch und die Frage „Willst du, oder musst du Auto fahren?“ Diehls Forderung: Eine Mobilitätswende durch die jede:r die Möglichkeit haben soll, „ein Leben ohne eigenes Auto führen zu können.“ Mit dem Blick auf den Alltag, Einschüben zu historischen Entwicklungen und schließlich zukünftigen Visionen, regt Autokorrektur dazu an, die eigenen Mobilitätsprivilegien kritisch zu hinterfragen und verleiht Personengruppen Sichtbarkeit, die im aktuellen Verkehrssystem nicht ausreichend mitgedacht werden.
„Automobilität ist männlich dominierende Mobilität“
Ein großes Problem der aktuellen Mobilitätslage stellt für Diehl das Denken in binären Strukturen dar. So widmet sie den ersten Teil ihres Buches männlicher und nicht-männlicher Mobilität und hebt hervor: Das Auto repräsentiert(e) in seiner Entwicklung den industriellen Erfolg des weißen, wohlhabenden cis-Mannes. Und auch bis heute dominieren im Verkehrssektor eindeutig männliche Strukturen. Wusstest du, dass im Verkehrsministerium nur 3 Prozent der Abteilungsleiter:innen weiblich und bloß 22 Prozent der Arbeitsplätze im Verkehrssektor von Frauen besetzt sind? Mir war diese Tatsache vor der Lektüre nicht bewusst – und auch nicht, welche Auswirkungen dies auf die gesamte Verkehrsplanung hat … Denn eine weibliche Perspektive (und auch die weiterer Personengruppen) fehlt bei der Mobilitätsplanung somit total. In diesem Zusammenhang auch krass: Die Autorin macht auf den Umstand aufmerksam, dass die Autoinnenräume überwiegend auf Männerkörper ausgerichtet sind. Testdummys, die zur Verkehrssicherheit eingesetzt werden, sind im Vergleich eher seltener an weiblichen Körpern orientiert konstruiert, was dazu führt, dass Frauen bei einem Unfall mit gleichen Voraussetzungen „zu 47 Prozent eine schwerere Verletzung davon[tragen] als Männer.“
„Während wir heute durchschnittlich auf 47 Quadratmetern wohnen, erhält das Auto mehr als das Doppelte an Fläche.“
Die Autozentriertheit der Städte führt außerdem dazu, dass wir weniger Platz für uns haben. Diesem Sachverhalt geht Diehl im Kapitel „Raum“ nach. Dabei fand ich spannend (und gleichermaßen erschreckend), dass sich von 160 Millionen Stellplätzen für das Auto 70 Prozent am Straßenrand befinden, wodurch ganze 840 Millionen Quadratmeter an Fläche verloren gehen. Die Folge davon: Innenstädte verwandeln sich in richtige Parkstädte, die weder barrierearm noch kinderfreundlich sind. Wahnsinn, wie viel Platz uns allen durch weniger Autos zur Verfügung stehen würde…
Der öffentliche Raum wird in Diehls Auseinandersetzung außerdem als Raum verhandelt, der die Mobilität abends und nachts besonders bei Frauen und BIPoC Personen zum Auto lenkt, um sexistischen sowie rassistischen Anfeindungen in öffentlichen Räumen und dem ÖPNV zu entgehen. In diesen Ausführungen habe ich mich selbst wiedererkannt und an Situationen erinnert, in denen ich mich ebenfalls für das Auto und gegen den ÖPNV oder den Fußweg entschieden habe, um mögliche unangenehme Begegnungen zu vermeiden – dass ich diese Wahl überhaupt treffen konnte, ist ein weiteres Autoprivileg…
„Mobilität [ist] als Grundrecht zu denken, das selbstbestimmt gestaltet werden kann.“
Das Spannendste am Buch waren für mich die Interviews, die Diehl unter dem Abschnitt „Mensch“ mit heterogenen Personengruppen führt und dadurch Perspektiven offenlegt, die in der Verkehrsplanung nicht bedacht oder gehört werden. Eine Sache haben diese Menschen gemein: Sie fahren nicht gerne Auto oder können kein Auto fahren. Die Interviews geben interessante Eindrücke aus individuellen Lebensperspektiven und tragen dazu bei, dass eigene Verhalten zu hinterfragen, sich den eigenen Privilegien bewusst zu werden oder sich womöglich in den Meinungen selbst wiederzuerkennen. Die Autorin spricht unter anderem mit Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht Autofahren können oder wollen, Menschen mit Familien, Menschen in Armut und Menschen im ländlichen Raum.
Die Stimmen, die zu Wort kommen, zeigen deutlich ein großes Problem auf: Beim Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV): schlechter Streckenausbau, wenige Fahrten, teure Tickets, keine Barrierefreiheit und kaum Sicherheitspersonal sind einige der Aspekte, die genannt werden. Aber auch schlecht ausgebaute Radstrecken und Fußgängerwege werden von den Menschen häufig als große Einschränkung der eigenen Mobilität wahrgenommen.
„Wenn wir die Mobilität verändern wollen, dann […] müssen wir uns sehr vielen gesellschaftlich drängenden Fragen stellen.“
Katja Diehls Autokorrektur macht genau das. Es handelt sich um einen Text, der Wurzeln gesellschaftlicher Problematiken, wie etwa Sexismus und Rassismus im Mobilitätssektor offenlegt und diskutiert. Es handelt sich um ein Buch, dass leicht verständlich das „Bewusst-werden“ und Hinterfragen der eigenen Privilegien fördert und Menschen eine Stimme gibt, die im Verkehrssektor kaum oder zu wenig gehört werden. Die Autorin legt ein hochaktuelles politisches Plädoyer ab, das keineswegs das Auto verteufelt. Stattdessen liegt das Augenmerk in Autokorrektur auf der Schaffung von attraktiven Alternativen, die inklusiv, bezahlbar und klimafreundlich sind und durch die Mobilität unabhängig von einem Auto gestaltet werden kann.
Judith Heruc
Praktikantin youngcaritas Deutschland