Freitag, 23.09.2016
Und die Frage aller Fragen: Haben mich die Erfahrungen beim we.confer BarCamp irgendwie verändert?
Als am Freitag we.confer startete, war ich voller Vorfreude und gespannter Erwartung. Auf die anderen Teilnehmer*innen, auf die Inputs der Speaker, auf die Gespräche und Diskussionen, auf den Workshop am Samstag sowieso. Ich erwartete Einiges. Und doch war mir nicht ganz klar, was genau. Ein konkretes Ergebnis? Eine Antwort auf die Frage „Wie erreichen wir eine offene Gesellschaft?“? Nein. Das schien mir von vornherein nicht möglich. Also gut. Was dann? Zumindest wollte ich mit einem „mehr“ nach Hause fahren… einem „mehr“ an Meinungen anderer Menschen zum Thema „offene Gesellschaft“, einem „mehr“ an Erfahrungen, einem „mehr“ an Ideen und vielleicht ein Stückchen mehr Offenheit?
Der Freitagabend konnte diese Erwartungen meinerseits auf jeden Fall schon ein Stück weit erfüllen. Der Abend begann mit einer kurzen Begrüßung und ein bisschen praktischer Raumsoziometrie von und mit Irene Bär (Leiterin youngcaritas Deutschland) zum ersten Kennenlernen der anderen Teilnehmer*innen.Danach wurde das Wort übergeben an den Moderator Alexander Wragge von „Die offene Gesellschaft„, der die drei Keynote-Speaker ankündigte und die Diskussionen leitete. Anschließend folgten die Inputs der Speaker Mona Jas, Ansgar Drücker und Fatuma Musa. Nach jedem Input war Zeit für Fragen und Diskussion. Wir saßen dabei alle zusammen in einem Kreis aus Holzbänken, eine Bühne im klassischen Sinne gab es nicht. Soviel zum äußeren Rahmen.
Mona Jas – Kunst und offene Gesellschaft? Was hat das eigentlich miteinander zu tun?
Die drei Vorträge waren alle komplett unterschiedlich – von der Art vorzutragen, der Stimmung, die damit kreiert wurde und den inhaltlichen Schwerpunkten. Mona Jas machte den Anfang. Sie ist Künstlerin, Honorarprofessorin für Theorie und Geschichte an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin und Initiatorin eines Kulturprojekts für und mit geflüchteten Menschen.
Die sogenannte „Berlin-Mondiale“ organisiert Partnerschaften zwischen Kultureinrichtungen und Notunterkünften für Geflüchtete. Viele sehr unterschiedliche Institutionen (vom Haus der Kulturen der Welt bis zum Deutschen Theater, von kleineren Vereinen wie Young Arts Neukölln und den ‚KunstWerken‘, einem Ort für Ausstellungen in Berlin-Mitte) machen mit – und werden dabei von dem Netzwerk unterstützt. Was passiert konkret? Mona Jas lädt ein, mit ihr spazieren zu gehen! Und zwar die Menschen aus Flüchtlingsunterkünften wie beispielsweise der in Moabid. Aber genauso andere Menschen aus der Nachbarschaft – Kinder, Jugendliche, Erwachsene. Im Prinzip ist jeder eingeladen, der gerne mitmachen möchte. Beim Spaziergang werden dann Kunstwerke besichtigt und es besteht die Möglichkeit, selbst kreativ zu werden.
Für Mona Jas war es, wie sie zu Beginn ihres Vortrages festhält, eine Herausforderung als Speakerin zum Thema „Offene Gesellschaft“ aufzutreten. Sie kommt aus dem visuellen Bereich und auf den ersten Blick ist die Verbindung zwischen dem Thema „Offene Gesellschaft“ und Kunst nicht ganz offensichtlich. Was hat das eigentlich miteinander zu tun? Was ist das Ziel ihrer Arbeit? Das waren die Leitfragen, die sie sich am Anfang stellte.
Ziel der Arbeit von Mona Jas ist die künstlerische Arbeit mit unterschiedlichen kulturellen Gruppen. Sie möchte durch oder in künstlerischen Prozessen Formate finden, die individuell verbinden, gemeinsam neue Perspektiven eröffnen, Projekte machen, die Netzwerke schaffen, in denen Grenzen überschritten und auch akute, aktuelle Themen bearbeitet werden. Das Ganze soll außerdem mit experimentellen und innovativen Methoden passieren. Dazu stellt sie sich häufig die Frage: Was stellt sich Prozessen dieser Art eigentlich entgegen? Oder allgemeiner formuliert: Was verhindert Offenheit?
Aus der Erfahrung heraus, die sie in ihrer Arbeit macht, hat sie gelernt, dass es meist nicht an Sprachhürden oder kulturellen Unterschieden liegt, sondern es sich oft um Probleme handelt, welche unsere Gesellschaft sowieso hat und die sich durch die größere Heterogenität der Gruppen nur zugespitzt präsentieren. Diese Heterogenität sieht sie persönlich als riesengroße Chance, sieht aber genauso, dass es anscheinend die Menschen überfordert. Sie geht damit so um, dass sie versucht durch künstlerische Projekte Netzwerke zu schaffen. Aus dieser Arbeit, kann sie erzählen, dass individuell verbinden nur dann funktioniert, wenn Vertrauen da ist und die Möglichkeit, sich immer wieder zu begegnen.
Erschwert werden diese Prozesse vor allem durch Ungleichgewichte jeglicher Art. Sie macht ein eindrückliches Beispiel: Als Engagierter, der in eine Flüchtlingsunterkunft kommt, sehe ich wie dort eine Familie lebt, diese Familie sieht aber nicht, wie ich oder meine Familie leben. Eine andere entscheidende Frage ist: Warum soll jetzt eigentlich diese Familie irgendein Projekt mit mir machen? Hier stößt man an Grenzen bzw. auf ein starkes Ungleichgewicht. Zusammenarbeit funktioniert nur, wenn davor eine Symmetrie hergestellt wird. Sonst ist es, als würde eine Partie die jeweils andere „bespielen“.
Ihr Anliegen für ihr Projekt war deshalb schlicht und ergreifend: Sie möchte mit denjenigen, die sich dafür interessieren, einen Spaziergang durch Berlin machen – und zwar von der Unterkunft in Moabid bis zu den Kunstwerken in Berlin Mitte und so verschiedene Orte miteinander verbinden und dadurch auch die Menschen, die mitgehen. Ein Ziel dabei ist, den institutionellen Rahmen zu verlassen, um eben diese gewisse Symmetrie zu schaffen. Das heißt im Endeffekt: Die Menschen vernetzen sich, schließen vielleicht sogar Freundschaften.
Dazu ist es auch sehr wichtig, dass jeder an seinen eigenen Vorurteilen arbeitet, darüber spricht, sich selbst auch mitsamt den postkolonialen Strukturen, in denen wir leben, in den Blick nimmt. Manche Projekte scheitern auch daran, dass gesagt oder gedacht wird „ich weiß was für euch gut ist“. Eine solche paternalistische Haltung muss ebenfalls überwunden werden. Aber wenn das geschafft ist und Leute von sich aus Lust haben z.B. wie es Frau Jas anbietet, spazieren zu gehen, dann ist schon viel gewonnen und es können neue Verbindungen entstehen.
In der anschließenden Diskussionsrunde ging Frau Jas dann unter anderem noch auf ein Konzept ein, das eigentlich aus der Literaturwissenschaft kommt, ihr aber als Bild für ihre Vorgehensweise und ihr Verhältnis zur Gesellschaft dient und das, wie ich ganz persönlich finde, schön und nennenswert ist. Und zwar erzählte sie vom Konzept des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin, welcher sagt, dass zwei Sprecher in jeder Situation ihre Sprache neu verhandeln, d.h. in jeder Situation werden wir eine neue Sprache finden („duzen“ oder „siezen“ wir uns? Mit wem sprechen wir wie auf welche Weise? etc.). Wer jetzt auch einen kleinen Einblick in die Arbeit von Mona Jas bekommen will, kann sich z.B. das Album anschauen, das im Zuge eines der Projekte entstanden ist. Darin finden sich Fotos, Zeichnungen und Kommentare der Beteiligten.
Ansgar Drücker – Wir sollten die offene Gesellschaft feiern
Der nächste Speaker war Ansgar Drücker. Er ist Geschäftsführer beim Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V., welches Jugendverbände bei Fragen rund um die Thematik Antirassismus berät.
Gleich zu Beginn seiner Rede geht er auf aktuelle Brennpunkte in Politik und Gesellschaft (wie beispielsweise die Wahlergebnisse rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien, das „Feindbild Muslime“ über den Brexit bis hin zur Silvesternacht in Köln) ein und stellt diesen die Tätigkeit der „Gutmenschen“ von youngcaritas gegenüber: „Und dann kommen die Gutmenschen – das ist ja inzwischen fast zu einem Schimpfwort geworden – der youngcaritas daher und wollen idealistisch über „offene Gesellschaft“ diskutieren, während gerade überall Grenzen geschlossen werden?“ Und kurz darauf folgt „Offene Gesellschaft ist schön, aber ein bisschen Privatsphäre haben wir alle ganz gern.“
Nicht nur mit Aussagen wie diesen führt Ansgar Drücker uns erstmal deutlich vor Augen, dass wir bei allem Tatendrang und allen wichtigen und auch wünschenswerten Diskussionen nicht den Boden unter den Füßen verlieren dürfen. Ebenso weist er darauf hin, dass heutzutage oft Menschengruppen über einen Kamm geschoren werden, die man so einfach nicht in einen Topf zusammenwerfen kann. So geschehen beispielsweise nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln. Sexuelle Übergriffe, überwiegend verübt durch junge Männer nordafrikanischer Herkunft, machten plötzlich alle muslimischen jungen Männer zu Sexisten und potenziellen Tätern. Sexualität ist überhaupt ein Thema, was Angst hervorruft.
Ein anderes Thema ist die Neidgesellschaft. Ansgar Drücker sagt dazu ganz klar: „Offene Gesellschaft kann nur funktionieren mit Gleichberechtigung, Antidiskriminierung und Solidarität mit Schwächeren. Angst, Neid und Hass sind die derzeit sichtbarsten Gifte für die offene Gesellschaft. Das bedeutet aber, dass wir die Menschen nicht nur auf der argumentativen Ebene, sondern auch emotional für die offene Gesellschaft gewinnen müssen. Denn Angst, Neid und Hass sind häufig irrationale Gefühle, bei denen wegdiskutieren wollen nicht weiterhilft.“
Der Tenor und das Schlussfazit, das er zieht, ist, dass wir uns vielleicht nicht die Köpfe über den richtigen Umgang mit den Feinden der offenen Gesellschaft heißreden, sondern stärker überlegen, wie wir von der offenen Gesellschaft, die wir in Teilen längst verwirklicht haben, schwärmen und lernen und für sie werben sollten.
In der anschließenden Diskussionsrunde sorgte vor allem eine Aussage für einen allgemeinen Lacher in der Runde. Zum Thema der Neiddebatte und Emotionalität versus Rationalität fällt der Kommentar vom Moderator Alex „Viele Leute in Deutschland hätten sich selbst mal gewünscht, dass Merkel sie in den Arm nimmt und mit ihnen ein Selfie macht. Jetzt kommt jemand neu ins Land und bekommt diese körperliche Nähe und Emotion und andere denken sich: „‚Ja, und bei mir kommt niemand vorbei und sagt, du bist willkommen und ich hab dich lieb‘. Könnte es sein, dass wir nicht auch in unserer Leistungsgesellschaft zu wenig emotionale Wertschätzung erhalten?“ Ja, könnte es. Aber das hätte in unserer Runde jetzt wohl eine Debatte über Tiefenpsychologie gegeben, in die wir dann doch nicht einsteigen wollten.
Hier findet Ihr eine Zusammenfassung der Keynote von Ansgar.
Fatuma Musa – Be a changer!
Die letzte Input-Geberin in der Runde war schließlich Fatuma Musa. Sie ist Aktivistin für Frauenrechte und Newcomer, beschäftigt sich also mit Themen rund um Frauen, Geflüchtete, Neuankömmlinge und Integration. Obwohl sie die letzte Speakerin in der Runde war, hatte sie sofort alle Aufmerksamkeit auf ihrer Seite. Nicht nur aufgrund der wahnsinns Energie, mit der sie auftrat, sondern auch, weil sie uns mit ihrem „kaputten“ Deutsch direkt zum Lachen brachte.
Sie beginnt ihre Rede mit der Frage, die ich diesem Beitrag vorangestellt habe. „What is change? And what is change for you personally?“ Sie holt sich zwei Meinungen aus dem Publikum. Der O-Ton ist im Endeffekt: Man hat einen Status quo, der besser oder schlechter wird, was dann als „change“, das heißt als Veränderung bezeichnet werden kann. Die Intention ist aber meist, etwas zu verbessern und nicht zu verschlechtern.
Fatuma sagt von sich selbst „I’m a change maker“. Sie geht von dem Standpunkt aus, dass jeder seine eigene Meinung zu der Frage hat und sagt dann: „We are all right in our own way. And that is where the problem starts.“ Keiner kann einem anderen seine Meinung vorschreiben. Um uns selbst eine Meinung bilden zu können, sieht sie vor allem eine Sache als essentiell an: Bildung. „We need to educate ourselves about everything.“ Wir müssen in der Lage sein über alles, was uns beschäftigt zu sprechen.
Aber es geht nicht nur darum. Bildung heißt auch, die Person neben dir zu verstehen. Es geht darum, die Gesellschaft, die dich umgibt und in der du lebst mitsamt ihren Problemen zu verstehen. Um ihren Standpunkt zu verdeutlichen, fragt Fatuma provokant in die Runde: „Would you like to leave Deutschland today? Would you like to go to Somalia? Forever?“ Die Antwort aus dem Publikum war nein und zwar aufgrund der eigenen Familie, die hier lebt. Fatuma macht sehr deutlich, dass vermutlich niemand sein Land verlassen wollen würde, wenn alles super toll ist. Menschen flüchten nicht, wenn es keinen Grund dafür gibt. Das sollten wir immer mitdenken, sagt sie.
Es ist gut, sich bewusst zu sein über die Probleme in unserer Gesellschaft. Auch in Deutschland gibt es beispielsweise Leute, die in Armut leben und alte Menschen, die Hilfe brauchen. Sie als „political activist“ will sich einsetzen, etwas tun, etwas bewegen. Solche Hilfe fängt im Kleinen an, sagt sie. Allein wenn man eine Stunde seiner Zeit dafür einsetzt, einem anderen Menschen zu helfen oder beispielsweise an einer politischen Diskussion teilzunehmen, kann das schon viel bewirken.
Zum Abschluss warf sie die Frage in die Runde „In what kind of community would you like to live in?” Und sie selbst beantwortete die Frage mit: “I want to live in a world that respects everybody regardless of what they are.“ Aber um die Realität nicht aus den Augen zu verlieren, sagt sie auch ganz klar, dass es natürlich ein Prozess ist, zeitaufwendig und manchmal auch riskant, ein “changer” zu sein. „It’s a dedication from the heart.“ Der nächste Schritt ist dann, ins Handeln zu kommen und die Verschiedenheit zu feiern, die in unserer Gesellschaft besteht. Und ein oder vielleicht DER entscheidende Schlüssel dafür ist: Kommunikation.
Offene Gesellschaft ist für mich…
Alle Vorträge waren auf ihre Art einzigartig und toll. Und gerade die Verschiedenheit passt, wie ich finde, perfekt zum Thema von we.confer. Das ist doch schon ein Stück weit offene Gesellschaft, oder nicht? Verschiedene Menschen mit unterschiedlichem kulturellen und privaten Hintergrund werden gehört und tragen etwas zur Gesellschaft bei. In dem Raum der Forum Factory Berlin, in der we.confer stattfand, war an einer Wand der Satz angebracht „Eine offene Gesellschaft ist für mich… eine Zumutung / eine Herausforderung / ein großes Glück“ und jede*r Teilnehmer*in konnte einen Punkt unter die Aussage kleben, die für ihn zutrifft. Die meisten klebten ihre Punkte unter „eine Herausforderung“, wobei auch eine Tendenz zu „ein großes Glück“ zu sehen war. Nur ein Punkt klebte unter „eine Zumutung“.
Auch ich persönlich sehe die offene Gesellschaft als Herausforderung. Dieser Freitagabend hat mir aber einmal mehr bewiesen, dass die offene Gesellschaft schon ein Stück weit Realität ist und jeder von uns täglich, wenn auch nur im Kleinen (oder gerade im Kleinen?), etwas dazu beitragen kann. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, spüre ich immer noch die gute Atmosphäre, die am Freitag Abend in diesem Raum war. Danke an alle, die dabei waren und das kreiert haben! 🙂
Text: Eva Linz, Praktikantin bei youngcaritas Deutschland
Fotos: Walter Wetzler
Hier geht es weiter mit dem Blogbeitrag von Eva über den Samstag von we.confer.
2 Antworten auf „Was bedeutet Veränderung für dich?“