Männer als Normmenschen – auch im Deutschunterricht

Wie sehr in den Schul-Lektüren Frauen zu kurz kommen, und wie wichtig es ist dies zu ändern, kommentiert Emma Fohler.

Wie veraltete Rollenbilder in der Schule zementiert werden

In dem Bildungsroman „Steppenwolf“ von Hermann Hesse geht es um einen jammernden alten Mann, der es nicht schafft sein Leben auf die Reihe zu bekommen und alles Moderne ablehnt. Ach ja, und außerdem schläft er mit einer Prostituierten, die von ihm kein Geld verlangt, weil so ein alter Sack mit Gicht ja so sexy ist…
So hätte wahrscheinlich meine Einleitung für den Abituraufsatz über den Steppenwolf letztes Jahr ausgesehen, wenn ich ehrlich hätte sein dürfen. Stattdessen musste ich aber zum Wohlgefallen des Bildungsplanes im Unterricht gelernte Schablonen unterbringen, etwa, dass Harry Haller, der Protagonist des „Steppenwolfs“ zutiefst unzufrieden mit seinem Leben sei, weil er nicht in den Geist seiner Zeit passe und gleichzeitig Teile seiner Persönlichkeit unterdrücke.

Vielen Schülerinnen fällt es leicht, sich in einen alten Mann hineinzuversetzen – warum eigentlich? Foto: Pexels

Nicht, dass der Roman durchgehend schlecht ist. Es gibt durchaus Teile, die mir gefallen, wie zum Beispiel die Persönlichkeitsproblematik und der durchscheinende Ruf nach mehr Freiheit. Natürlich habe ich den Steppenwolf irgendwie verstanden. Wer denkt nicht manchmal, dass er:sie nicht in unsere Zeit passt? Wer verspürt nicht manchmal den Drang, sich stärker auszuleben? Aber warum fällt es mir so verdammt leicht, mich in einen alten, heterosexuellen Mann hineinzuversetzen?

Vielleicht, weil ich seit der ersten Klasse durchgehend nur Bücher von männlichen Autoren mit, bis auf eine Ausnahme, männlichen Protagonisten analysieren musste. Alle Bücher, die wir in der Schule durchnahmen, waren aus einer männlichen Perspektive heraus geschrieben. Männer sind eben immer noch die Norm-Menschen unserer Gesellschaft. Männerprobleme können und müssen wir alle verstehen. Wenn Faust Gretchen nur für eine Nacht haben will und sie danach mit einem Baby alleine lässt, ist das ja irgendwie auch verständlich, weil er ja unzufrieden ist und unbedingt wissen will „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Da kann ein häusliches Leben mit Magarete natürlich nicht mithalten. Ist doch klar! Und es ist auch klar, dass so etwas in der Schule besprochen werden muss. Passt auf Mädels: Männer nehmen sich manche Dinge heraus, die auf den ersten Blick moralisch schlecht erscheinen, aber doch nur, weil sie zum größeren Glück hin streben und außerdem sind sie ja auch ziemlich arm dran. Faust zum Beispiel wäre gerne gottesgleich, ist aber nur ein langweiliger Professor. Da ist es doch selbstverständlich, dass er für seine Selbstfindung über (wortwörtlich) Leichen gehen muss.

Das Problem mit der „Opferfrau“

Die Frauen in den Werken, die wir in der Oberstufe gelesen haben, sind allesamt entweder Opfer oder Hilfsfiguren für die Entwicklung der Protagonisten. Eventuell könnte noch Veronika, eine bürgerliche Frau aus dem „Goldnen Topf“, als starker Frauencharakter beschrieben werden, weil sie um den Mann ihrer Träume kämpft. Wie das aber oft so bei Frauen ist, drehen sich ihre Träume meist nur um Ohrringe und anderen Schmuck, den sie geschenkt bekommen möchte.

Manche von euch werden jetzt vermutlich sagen: Stimmt schon, aber die Bücher sind ja auch alt und es geht doch darum, die deutsche Literaturgeschichte und den Kanon aufrechtzuerhalten und weiter zu vermitteln. Vielleicht gibt es tatsächlich weniger so bekannte Dramenautorinnen aus dem frühen 19. Jahrhundert wie Goethe, aber für Hesses griesgrämige Selbstzerfleischung gäbe es sicher einen (ähnlich verstörenden) Ersatz aus weiblicher Perspektive.

Die Regale sind voll von Büchern über und von Männern. Foto: Emma Fohler

Ganz unverständlich ist es, dass auch im modernen Fremdsprachenunterricht nur Werke ausgewählt wurden, die männliche Protagonisten aus männlicher Perspektive thematisiert haben. Oder erklären Sie mir mal die Englisch-Lektüre, die ich mir geben musste. In Englisch wurde beschlossen, einmal ein Buch zu lesen, das moderner ist, damit die Schüler:innen sich besser damit identifizieren können. Ausgesucht wurde ein Roman, den in den USA und Großbritannien keiner kennt, mit zwei männlichen, schon etwas in die Jahre gekommenen Protagonisten. In dem Roman „Crooked letter, crooked letter“, der weder relevant für die anglistische Literatur ist, noch besonders unersetzbar scheint, kommen genau drei Frauen vor. Zwei von ihnen werden zum Opfer eines Mordes, die dritte ist die Freundin des einen Protagonisten, die durchgehend zu ihm hält, auch als herauskommt, dass er ein Verräter ist. Zum Dank dafür fährt sie mit zu seinem besten Freund, der im Krankenhaus liegt, und putzt dessen Wohnung, damit sich Protagonist eins nicht die Hände schmutzig machen muss. Sowieso ist sie natürlich nicht „wie alle anderen Frauen“, denn sie interessiert sich nicht (wie alle anderen Frauen) fürs Schminken. Außerdem ist sie auch noch unglaublich sexy (ganz im Gegensatz zu ihrem Freund).

Egal in welcher Sprache – in meinen Oberstufenlektüren ging es um Männer. Foto: Emma Fohler

Die zweite Opfer-Frau wird von einem Mann umgebracht, der eine sehr schwere Kindheit und Jugend hatte und generell von der Gesellschaft und vor allem von den Frauen nicht akzeptiert wurde, was so viel heißt wie, keine wollte ihn. Im Unterricht haben wir darüber debattiert, ob er nicht selbst, sondern das ausgrenzende Verhalten der Gesellschaft für sein Handeln verantwortlich ist. Warte, was? Nicht der Täter etwa, sondern die Frauen, die ihn zuvor zurückgewiesen haben, könnten Schuld haben? Was sollen solche Gedanken jungen Mädchen beibringen? Passt auf: Viele Männer ertragen es nicht, wenn ihr sie zurückweist, also lasst sie lieber machen? In den USA nehmen die Attentäter zu, die als Begründung für ihre Tat Zurückweisung von Frauen nennen. Mag sein, dass sich der Mann zurückgewiesen gefühlt hat, aber keine Frau der Welt ist irgendeinem Mann etwas schuldig! Bücher, in denen so etwas auch nur ansatzweise impliziert wird, sollten in der Schule allenfalls kritisch betrachtet werden.

Natürlich ist es gut, über sexualisierte Gewalt gegen Frauen zu sprechen und die Denkmuster von eben diesen Männern zu entlarven, aber Frauen dabei immer nur als wehrloses Opfer oder noch schlimmer als selbst daran Schuld darzustellen, kann nicht der Inhalt des Sprachunterrichts sein!

Bücher aus weiblicher Perspektive können auch eine Chance für Männer sein, Foto: Pexels

Moment, ich vergaß: Es gibt nicht nur die Opferrolle und die der idealisierten Frau in unseren Oberstufen-Lektüren, es gibt auch die nicht vorhandene Rolle der Frau. In meinem Französischkurs, in dem nur Mädchen waren und der von einer Lehrerin unterrichtet wurde, mussten wir uns die philosophische Geschichte eines Mannes, der zudem Kolonialist war, durchlesen. Es ging um Camus‘ „L‘hote“. Wir widmeten etliche Stunden unseres Französischunterrichtes, in dem, ich betone, nur weibliche Personen anwesend waren, der Analyse der Gedanken des Protagonisten und des anderen männlichen Charakters.

Frauen können Literatur!

Wenn es in den Fremdsprachen also darum geht, mal ein Buch in einer anderen Sprache zu lesen, warum kann dann nicht ein Buch von einer Frau über eine Frau genommen werden, wenn das Fach Deutsch schon ein Patent auf Bücher von männlichen Autoren über Männer hat? Spielt da etwa der Gedanke mit, Frauen könnten keine guten Bücher schreiben? Können sie wohl, das wurde inzwischen zu Genüge bewiesen. Zum Beispiel könnten in Deutsch Werke von Marie-Luise Fleißer, Sybille Berg, Julia Franck oder Mirijam Pressler gelesen werden und im Französischunterricht würde Isabelle Autissiers Roman „Herz auf Eis“ für eine spannende ethische Diskussion sorgen. Im Englischunterricht könnte Jane Austen als historische und Suzanne Collins mit „Die Tribute von Panem“ als moderne Autorin behandelt werden – um nur einige wenige weibliche Optionen zu nennen.

Bücherstapel
Dass Frauen gute Bücher schreiben können, steht inzwischen fest, Foto: Emma Fohler

Wenn wir in den unteren Klassen oder in der Mittelstufe ein Buch über eine Frau gelesen hätten, hätte sie es, glaube ich, schwer gehabt. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob die Jungs sich darauf hätten einlassen können und sich ernsthaft in ihren Charakter hineinversetzen würden. Ich kann mir ihr Gegrinse und Geläster schon regelrecht vorstellen, was kein Wunder ist, wenn sie noch nie ein „Mädchenbuch“ lesen mussten. Deswegen müssen sie es dringend lernen. Es kann für eine Gesellschaft nämlich nicht gesund sein, wenn immer nur eine männliche Perspektive aufgezeigt wird und Männer nicht gezwungen sind, auch mal Frauen zu verstehen. Sonst wird „Frauenversteher“ auf ewig eine Beleidigung bleiben. Da nicht davon auszugehen ist, dass alle Männer von selbst zuhause anfangen, Bücher von Frauen über Frauen zu lesen, muss das eben in der Schule geschehen. Die Gesellschaft kann sich nur verändern, wenn auch die Perspektive jede:s Einzelnen sich ändert.

 

 

 

 

 

 

Emma Fohler

Freiwilligendienstleistende youngcaritas Deutschland

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